Zitat:
Lady Atlantis hat geschrieben:
Meiner Auffassung nach sind Rückblenden ein wichtiges Mittel, um Figurentiefe zu erzeugen und so dem Leser die Figuren näher zu bringen.
Nein. Ganz entschieden nein. Rückblenden schaffen meiner Erfahrung nach Distanz, keine Nähe. Sie können zwar Informationen über die Figur vermitteln, aber sie sind nicht das beste Mittel dazu.
Ja, und genau das ist eben der Punkt, an dem ich Deine Argumentation nicht nachvollziehen kann: Warum sind Rückblenden kein gutes Mittel? Warum schaffen sie Distanz?
Sorry, aber das sind für mich Pauschalaussagen ohne Hand und Fuß.
Für mich wirkt daher der Verzicht auf Rückblenden momentan wie reiner Selbstzweck: Weil man mal irgendwo gelesen hat, dass es auch andere, komplexere Mittel gibt als Rückblenden, um die Vergangenheit einer Figur anzudeuten, wird komplett auf Rückblenden verzichtet, damit man sich hinterher auf die Schulter klopfen und sich selbst loben kann, was für ein toller Autor man doch ist, weil man konsequent das "kompliziertere" Stilmittel anwendet. Das mag zwar dem eigenen Ego zuträglich sein, nicht aber dem Text.
Meiner Meinung nach erzeugen Rückblenden deswegen Nähe, weil sie es ermöglichen, unmittelbar an der Gedankenwelt einer Figur teilzuhaben. Natürlich gibt es auch andere Mittel, um auf die Vergangenheit einer Figur hinzuweisen. Um mal bei unserem Beispiel zu bleiben: Wenn unser Ex-Alkoholiker konsequent alkoholische Getränke ablehnt, die ihm angeboten werden, und auf Nachfragen oder harmlose Scherze empfindlich, verletzt und gekränkt reagiert, ist es ganz offensichtlich, dass er früher ein Alkoholproblem hatte und dass das ihn noch immer irgendwie beschäftigt. Aber das ist etwas, was man in dieser Form auch genauso gut in einem Film oder einem Hörspiel darstellen könnte. Das Besondere bei der Literatur hingegen ist doch gerade, dass man unmittelbar in das Welterleben und die Gedankenwelt einer Figur eintauchen kann. Und dazu gehört dann eben auch, dass Figuren ihre Erlebnisse reflektieren und dabei auch über ihre Vergangenheit nachdenken.
Zitat:
Lady Atlantis hat geschrieben:
Zumindest bei einem Roman, bei dem die Geschichte stark durch die handelnden Figuren getragen wird
Zitat:
Jeder Roman wird durch die handelnden Figuren getragen. "Die Figuren machen die Geschichte. (Sol Stein)"
Ah, entschuldige, da hatte ich mich unklar ausgedrückt, das sehe ich jetzt selbst. Ich wollte nicht unterscheiden zwischen "Romanen, bei denen die Handlung durch die Figuren getragen wird" und "Romanen, bei denen die Handlung nicht durch die Figuren getragen wird". Das ist Quatsch. Ich wollte den Roman von der Kurzgeschichte abgrenzen: Bei der KG steht die Handlung im Vordergrund, die Figuren sind - natürlich durch ihre individuellen Wesenzüge, Eigenschaften etc. - Handlungsträger. Beim Roman hingegen spielen die Figuren als eigenständige Persönlichkeiten eine wesentlich stärkere Rolle. Von daher sind in der Kurzgeschichte Rückblenden wesentlich verzichtbarer. Wenn z.B. in einer Kurzgeschichte irgendwie deutlich wird, dass der Prota aufgrund seines Alkoholproblems so handelt, wie er eben handelt, und dadurch die Handlung vorantreibt, genügt das vollauf. Wenn hingegen in einem Roman angedeutet wird, dass der Prota ein Alkoholproblem hatte, will der Leser, der den Prota evtl. mehrere hundert Seiten lang durch seine Abenteuer begleitet, mehr darüber erfahren - so, wie man eben auch "in echt" bei neuen Bekannten neugierig ist, welche Erfahrungen und Erlebnisse hinter ihren Eigenschaften, Reaktionen und Verhaltensweisen stecken. In dem Fall können Rückblenden ein wirksames Mittel sein, diese Neugierde zu stillen.
Zitat:
Lady Atlantis hat geschrieben:
Ich wüsste z.B. auch nicht, wie man einen typischen hurt heroe darstellt, ohne mittels Rückblenden in seine Vergangenheit einzutauchen und so zu zeigen, warum der heroe so hurt ist.
Ja, genau, da fehlt Dir noch das Handwerk.
Lady Atlantis hat geschrieben:
Ohne Rückblenden würde es vermutlich auf pauschale Aussagen à la "Peter war ein Ex-Alkoholiker" hinauslaufen.
Siehe oben. Wenn Du das denkst, fehlen Dir noch die stilistischen Mittel, um so etwas eben
nicht sagen zu müssen. Zeig in den Reaktionen im Hier und Jetzt die Verletzlichkeit, durch Gefühle, durch Mimik, durch Gestik, dann musst Du nicht ein "Tell" aus der Vergangenheit einbauen.
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Nö.

Ich würde nicht sagen, dass die Tatsache, dass ich auf unterschiedliche Darstellungsweisen - darunter auch die Rückblende - zurückgreife, davon zeugen, dass es mir an Handwerk und stilistischen Mitteln mangelt. Ich würde eher sagen, es zeugt davon, dass ich unterschiedliche Stilmittel gezielt einsetzen kann, um einen bestimmten Effekt zu erzeugen oder unschöne Nebeneffekte zu vermeiden.
Einen zentralen Punkt hat Martina ja schon angesprochen: Wenn alle relevanten biographischen Infos in Dialogen durchgekaut werden, klingen Gespräche schnell hölzern und unnatürlich. Da ist ein innerer Monolog, in dem die Figur über ihre Vergangenheit nachsinnt, oft die elegantere Lösung.
Dazu kommt, dass es durchaus ein interessantes Stilmittel sein kann, Figuren in Gesprächen keine relevanten Infos über ihre Vergangenheit oder nur verfälschte Infos geben zu lassen. Dass eine Figur über ein prägendes Erlebnis nie spricht oder es in Gesprächen anders darstellt, als sie es tatsächlich wahrgenommen hat, kann maßgeblich zur Charakterisierung der Figur beitragen. Und in solch einem Fall kann es wichtig sein, durch eine Rückblende zu zeigen, was sich tatsächlich zugetragen hat bzw. wie die Figur es wahrgenommen hat, eben um die Diskrepanz deutlich zu machen.
Damit sind wir schon bei der oben angesprochenen Figurentiefe, die durch Rückblenden erzeugt werden kann.
Wenn ich z.B. darstelle, wie die Figur alkoholische Getränke ablehnt und auf Kommentare dazu empfindlich reagiert, habe ich dem Leser die Info vermittelt, dass diese Figur ein Alkoholproblem hatte. Fein. Dadurch hat der Leser dann die nötige oberflächliche Info erhalten. Aber für meinen Geschmack ist die Sache damit viel zu schnell erledigt. Interessanter finde ich es, wenn z.B. in der ersten Hälfte des Buches auf die o.g. Weise dargestellt wird, dass die Figur ein Alkoholproblem hatte, wohingegen die Figur dann im zweiten Teil über ihre Vergangenheit reflektiert und mittels Rückblende noch mal gezeigt wird, was sie konkret erlebt hat. Dann findet auch eine Entwicklung in der Beziehung zwischen der Figur und dem Leser statt: Während er zuerst nur das Verhalten der Figur beobachten konnte, lässt sie ihn zu einem späteren Zeitpunkt unmittelbar an ihren Erinnerungen teilhaben. Also wie ein neuer Bekannter, bei dem man zuerst nur bestimmte Verhaltensweisen und Reaktionen beobachtet, bis man vertrauter miteinander wird und er auch über persönliche Erinnerungen spricht. Auf diese Möglichkeit, die Leser-Figur-Bindung gezielt zu steigdern, möchte ich nicht verzichten.
Zitat:
Wenn Du das Buch aber ohne die Rückblenden nicht schreiben könntest, dann besteht da ein handwerkliches Defizit.
Und nochmals: Nö. Einfach nur die Handlung runterreißen und dabei komplett auf Rückblenden o.Ä. zu verzichten ist keine Herausforderung.
Meiner Meinung nach besteht das handwerkliche Defizit eher, wenn man bestimmte Stilelemente pauschal ablehnt, statt von Situation zu Situation gezielt abzuwägen, ob sie vezichtbar sind oder eine Bereicherung darstellen.