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Registriert: 18 Jun 2006 05:46 Beiträge: 842 Wohnort: Wien
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BASTELANLEITUNG FÜR DIE MÄRCHENVorweg Das Märchen muss nicht in jedem Aspekt mit dieser "Bastelanleitung" übereinstimmen. Auch die bekannten Volksmärchen sind schließlich nicht "am Reißbrett" entstanden, wodurch sich immer mal wieder Abweichungen finden. Daher sind Abweichungen durchaus erlaubt und willkommen, solange insgesamt der märchenhafte Charakter erhalten bleibt. STRUKTURSetting- Ortlos: d. h. keine konkreten Orte
• Beschreibungen von Orten sollten möglichst vage bleiben und nur so viele Informationen enthalten, wie für das Verständnis der Handlung notwendig ist, aber nicht dazu dienen, den Handlungsort genau zu lokalisieren.
• Beispiel: »Einst lebte in einer großen Stadt ...«; nicht: »Einst lebte in Berlin ...«.
• Eine weitere Beschreibung der Stadt, die sie eindeutig als Berlin identifizieren würde, erfolgt nicht.
- Zeitlos-historisierend:
• Zeitlos: keine konkreten Epochen oder Jahreszahlen
• Durch Details soll bereits möglichst zu Beginn des Märchens ersichtlich sein, dass das Märchen »irgendwann früher« spielt. Dazu zählen z. B. archaische Berufe (Kräuterweiblein), historische Gesellschaftsformen (Königreich, Kaiserreich), Aussehen und insbesondere die Kleidung der Figuren (Haube, Zylinder), etc.
• Beispiel: »Der alte Mann lüftete seinen Zylinder.«
• Diese Details sollen nicht dazu dienen, das Märchen zeitlich exakt einzuordnen, sondern lediglich ein historisierendes Flair kreieren und deutlich machen, dass das Märchen nicht in unserer Zeit spielt.
• Historisierend: alle Epochen vom frühen Mittelalter bis 1918
• Das Märchen kann also vor dem Hintergrund eines pseudomittelalterlichen Settings, vor einem ans Zeitalter der Industrialisierung angelehnten Setting, vor einem an WW I erinnernden Setting etc. spielen.
- »Magische Welt«:
• Fantastisches (Magie, übernatürliche Wesen, sprechende Tiere, etc.) ist selbstverständlicher Bestandteil der Märchenwelt und wird von den handelnden Figuren nicht angezweifelt. Sprache- Kindgerecht
- Klar, u. a. keine Mundart
- Zeitlos
- Beispiel: »Du musizierst wunderschön«, sagte der Prinz zu dem Barden, der ihm sehr gut gefiel; nicht: »Krass, Alter, der Sound ist echt cool«, sagte der Prinz zu dem Barden, den er total scharf fand.
- Eingangs- und Schlussformeln (»Es war einmal …«, etc.)
- Formelhafte Wiederholungen von Handlungssequenzen
- Wichtig: Im Vordergrund steht die Handlung, nicht die Sprache!
INHALTThema- Ein Märchen handelt von der Lösung eines Problems, von einem Prozess (der Erhebung aus der Armut in den Reichtum, der Wandlung vom Bösen zum Guten, aus Hochmut wird Demut, etc.).
Ausgangssituation- Deprivation, Mangelzustand
- Das Märchen steigt unmittelbar in die Handlung ein: Es werden Schwierigkeiten, Probleme und Mängel benannt, die überwunden werden müssen.
Endsituation- Happy End
• (Volks-)Märchen vermitteln eine glückliche Weltsicht, Zuversicht und Lebensfreude. Das Märchen soll daher gut enden und einen positiven Ausblick auf die Zukunft enthalten:
• Der Held bzw. die Heldin überwindet Schwierigkeiten und erreicht das Ziel.
• Der Mangelzustand wird dauerhaft beseitigt.
• Böses wird besiegt und ggf. bestraft oder in Gutes verwandelt; Gutes wird belohnt.
• Missstände werden entweder für Personengruppen oder für Einzelfiguren beseitigt. Im letzteren Fall kann das individuelle Erfolgserlebnis darauf hindeuten, dass es grundsätzlich möglich ist, Ungerechtigkeit zu überwinden.
• Beispiel Personengruppe: Ein Arbeiter setzt (mit Hilfe magischer Kräfte) den ausbeuterischen Unternehmensherrn ab und verhilft so allen Arbeitern zu mehr Freiheit und Wohlstand.
• Beispiel Einzelfigur: Die Sultanstochter wird Karawanenführerin, statt den bösen Maharaja heiraten zu müssen (und zeigt so, dass es für Frauen durchaus möglich ist, ein selbstbestimmtes Leben zu führen).
• Die Lösung bzw. Endsituation des Märchens entspricht zeitgemäßen und politisch korrekten Vorstellungen von Gleichberechtigung (der Geschlechter, der Kulturen, der religiösen Einstellungen, der Lebensweisen, der unterschiedlichen sexuellen Orientierungen, o. Ä.).
• Beispiel: »[…] Und wenn die beiden Sultane nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute glücklich zusammen.«
- »Moderner« Inhalt
• Inhaltlich sind sowohl zeitgemäße als auch zeitlose Themen willkommen! Die Endsituation in den Märchen hat jedoch zeitgemäßen, politisch korrekten sowie modernen, gleichberechtigenden Vorstellungen zu entsprechen (s. o.).
• Beispiele für zeitgemäße Themen:
• Alternative Familienmodelle (alleinerziehende Eltern, Patchwork-Familien, Regenbogenfamilien, etc.)
• Ungleichbehandlungen (z. B. Rassismus) als Ausgangsproblem
• Homosexualität
• Fremdsein
• Aktive, selbstbestimmte Heldinnen und Helden (siehe: Helden und Heldinnen)
• Umweltschutz
• Atomenergie
• u. v. m.
• Beispiele für zeitlose Themen (ebenso gewünscht!):
• Soziale Widrigkeiten
• Familiäre Probleme
• Finanzielle Schwierigkeiten
• u. v. m. Figuren- Eher eindimensional als vielschichtig
• Klares »Gut-Böse«-Gefälle
• Beispiel: Dass eine gute Figur vom Bösen verführt wird oder mit dem Bösen liebäugelt, kommt in der Regel nicht vor – die Wandlung vom Bösen zum Guten gelegentlich schon.
• Wenige handlungstragende Eigenschaften
• Gegensatzpaare
• Beispiel: »Die eine Schwester war faul, die andere war fleißig.«
• Zeitlos, d.h. keine Biografien
• Es wird nicht anhand der bisherigen Lebenserfahrungen einer Figur erklärt, warum sie gut, böse, faul, fleißig o.Ä. ist.
• Meist namenlos
- Helden und Heldinnen
• Der Held bzw. die Heldin bewältigt die Aufgaben üblicherweise allein, nicht zusammen mit einer Gruppe (wie im Fantasy).
• Beispiel: Der Prinz zieht allein los, um den Prinz aus dem Nachbarkönigreich von dem Fluch zu befreien (Märchen), nicht: Der Prinz zieht mit seiner zwergischen Leibwächterin und einem Elfenmagier los (Fantasy).
• Dem Helden bzw. der Heldin können zwar durchaus Helfer und Helferinnen zur Seite stehen, er bzw. sie bleibt jedoch eindeutig die Hauptfigur.
• Selbstbestimmte Haupt- oder Nebenfiguren:
• Die Figuren sollten als selbstbestimmte Wesen behandelt werden, d.h. es sollte spätestens in der Endsituation deutlich werden, dass sie sich bewusst für diese Lebens- bzw. Verhaltensweise entschieden haben, damit zufrieden sind und respektiert werden.
• Fehlt zeitweise die Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, sollte das keinesfalls eine unhinterfragte Selbstverständlichkeit sein.
• Beispiel 1: Der hässliche Söldner rettet das ferne Zarenreich und dessen Zarewna, die sich daraufhin in ihn und seinen Heldenmut verliebt und ihn heiratet. Gemeinsam herrschen sie gerecht über das Land (Frau = selbstbestimmte Nebenfigur). Nicht: Der hässliche Söldner rettet das Zarenreich und bekommt dafür vom Zar ein Pferd, Ländereien und eine Prinzessin geschenkt (Frau = Gegenstand).
• Beispiel 2: Die eine Tochter des Magiers wird Bergarbeiterin und verhindert durch ihre Zauberkräfte Grubenunglücke. Die andere Tochter des Magiers ist glücklich, dass sie den Stammesherrscher heiraten darf, in den sie schon lange verliebt ist, bekommt zwölf Kinder und sorgt dafür, dass in ihrem Volk niemand hungern muss (=bewusste Entscheidungen für die jeweiligen Lebensweisen).
• Beachte: Aktive weibliche Haupt- oder Nebencharaktere sind zwar erwünscht, aber kein Muss! Sie sollen aber zumindest am Ende ihr Leben selbst in die Hand nehmen und bestimmen können.
• Wenn Frauen als aktive Hauptfiguren dargestellt werden, gibt es mehrere Möglichkeiten, das umzusetzen:
• Beispiel Hauptproblem: Ein Mädchen möchte die erste Ritterin werden und muss dazu viele Hindernisse überwinden.
• Beispiel selbstverständlicher Bestandteil: Die mutige Ritterin zieht los, um tödliche Gefahren zu bestehen und die Rodung des letzten Schutzwaldes im Reich zu verhindern (= es wird weder von ihr selbst noch von anderen Figuren in Frage gestellt, dass sie genauso wie männliche Ritter Abenteuer bestehen kann).
- Helfer und Helferinnen
• Menschen, magische Wesen, Tiere etc.
• Beispiel 1: Der alte Duke schenkt der Maharani einen Zeppelin, mit dem sie ihren Weg in das verbotene Reich bestreiten kann.
• Beispiel 2: Der Jäger verschont den Löwenkönig, der ihm daraufhin einen Geheimgang in das Schloss der bösen Kolonialherrin zeigt. Mit Hilfe der Löwen kann er die Kolonialherrin bezwingen und seine Familie befreien.
- Kontrastfiguren
• Beispiel 1: Die böse Wissenschaftlerin, dem das mechanische Arbeitermädchen zu Anfang der Geschichte ausgeliefert ist (Wissenschaftlerin = Antagonistin).
• Beispiel 2: Die beiden älteren Brüder nehmen es hin, dass sie keine Kontakte zu Einwanderern haben dürfen. Der jüngere Bruder hingegen kämpft um seine Freundschaft mit einem Jungen aus dem fahrenden Volk (ältere Brüder = Gegensatzfiguren).
- Weitere Hilfsmittel zur Bewältigung des Problems
• Helfer und Helferinnen (s. o.)
• Besondere Gaben (= konkreter Gegenstand)
• Beispiel: Der verwundete Soldat wird von der Kaisertochter gepflegt und bekommt von ihr zum Abschied einen Papierkranich, der sich in einen großen, lebendigen verwandeln kann. Auf diesem fliegt der Soldat weiter, um seine Aufgabe zu erfüllen.
• Weitere Gaben, wie beispielsweise Eigenschaften und Fähigkeiten
• Beispiel: Die eine Tischlerin zeichnet sich durch ihre Klugheit und ihr Geschick aus (im Gegensatz zu ihrer dummen, tollpatschigen Kollegin).
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